Karlstad

Mein erstes Wochenende allein hier oben. Nach den stressigen Tagen mit gerade akzeptabler Internetverbindung, viel beruflicher Organisation, Meetings, zig Telefonaten mit Familie und Freunden, habe ich es mir tatsächlich erlaubt, heute auszuschlafen. Ohne Wecker, ohne Zeitdruck. Also habe ich meinen obligatorischen Morgentee am See heute eher in einen Vormittagstee umgewidmet während sich bei diesem kleinen Ritual an dem strahlendblauen Himmel und der wärmenden Sonne im Gesicht nichts ändert. 🙂

Das Wetter ist, seitdem ich hier bin, einfach nur herrlich. Heute Nacht sinken die Temperaturen noch einmal auf knapp minus zehn Grad, die nächsten Nächte dann aber nur noch minus zwei bis minus drei Grad. Tagsüber bleibt es so, wie die erste Woche hier. Sonne satt und wenig Wolken. Die Eisflächen an Land verlieren langsam an ihrer plumpen Größe und zerfasern sich in ein komplexes Muster aus hell glitzerndem Eis und grünen Fleckchen dazwischen. Der Winter verliert spürbar seine Kraft gegenüber der immer mehr erstarkenden Sonne. Meine dicke Wolljacke brauche ich nur noch beim nächtlichen Spazieren.

Die nächsten Besichtigungstermine habe ich gestern Abend noch eingetütet, nachdem wir telefonisch die Möglichkeiten sortiert haben, die ich herausgesucht habe. Jetzt am Wochenende lasse ich mal Maklerportale links liegen. Also geht es heute nach Karlstad. Ich brauche einen 4G-Router mit Prepaidkarte als Ausweichmöglichkeit, wenn das mit dem Netz hier weiter so hakelig ist. Außerdem habe ich ja schon seit Ewigkeiten kein Kleidungsgeschäft oder einen Friseur von innen gesehen, sodass ich die Gelegenheit nutzen werde, mir endlich mal eine neue Jeans zu leisten und mich außerdem an den Fertigkeiten eines Barbiers zu ergötzen. Vorher muss ich jedoch erst einmal zu einem Smartphone Reparaturdienst, da mit gestern Abend das Gerät auf den gefrorenen Schotterboden geknallt ist. Das Schutzglas hat zwar den Screen vor Beschädigung geschützt, allerdings hat das LCD Panel dahinter durch den Aufprall schaden genommen, sodass die Hälfte des Screens nur noch als helle weiße Fläche agiert.

Gefunden habe ich einen kleinen Laden außerhalb von Karlstad, der mir innerhalb einer Stunde ein neues Display verbaut. Derweil mache ich mich auf den Weg in die Innenstadt. Auto im Parkhaus geparkt und raus auf die Straße. Das Gesicht immer wieder in die Sonne gewandt spaziere ich durch die sauberen Straßen, sehe wie die Schweden sich bei einer Fika angeregt in den Straßencafés unterhalten, oder den diversen Shoppingmöglichkeiten erliegen, die sich hier in jeder Straße offenbaren. Fröhliche Gesichter, hunderte von Lächeln, die man Dank der extrem selten ins Blickfeld huschenden Masken auch sieht. Ich genehmige mir einen wundervoll kräftigen Espresso und sitze eine halbe Stunde einfach nur da und beobachte das Gewusel auf dem Marktplatz. Danach schlendere ich durch den Stadsträdgården, bevor ich mich irgendwann dazu durchringe, eine der Shoppingmalls aufzusuchen. 

Bei allen Friseuren, die ich auf dem Weg zur Mall betrete,  bekomme ich die gleiche Antwort: „Heute keine Termine mehr frei. Ausgebucht bis Feierabend.“ Na super. Ich sehe auf der Rübe aus, wie der alte Rübezahl. Das lässt sich bei den Videocalls mit den Kollegen schon lange nicht mehr verbergen. Vielleicht rasiere ich sie mir einfach komplett ab, dass erspart dann auch das Haareraufen auf Arbeit. Aber mein Gott. Überlebenswichtig ist es nicht und ich habe auch nicht vor, einer Dame einen Antrag zu machen. Das passt auch noch über das Wochenende.

Also rein in das Shoppingcenter. Schnell den Router erstanden – eine Prepaidkarte hatte der Verkäufer ohne Bank ID natürlich nicht im Angebot. Dann rein zu H&M, Jeans, Farbe gefällt, anprobiert, passt, bezahlt, raus. Ich ziehe jede Dorfpromenade diesen Konsumtempeln vor. Ich mag diese Etablissements nicht. Werde ich auch nie mögen. Mein Sohn ebensowenig. Passt.

Auf dem Weg zurück zum Parkhaus sehe ich einen Telia Laden. Ich trete ein und ein junger Herr drückt mir nach einem kurzen technischen Wortwechsel kostenfrei eine Simkarte in die Hand. Einlegen, bei Telia auf der Homepage mit Visa Karte aufladen – „ich bin drin“. Super. So schnell und einfach werden Kunden zufrieden gestellt. Meine Ausweichmöglichkeit funktioniert tadellos, wenn ich sie brauche, mehr wollte ich nicht. Ganz ohne Bürokratie oder langen Diskussionen.

Auf dem Rückweg hole ich mein tadellos repariertes Smartphone ab. Preislich ähnlich gelagert wie in der BRD aber mit wesentlich mehr Konversation, Geschmunzel und einem freundlichen und kräftigen Handschlag zum Abschied. Auch das erfreut mich an diesem Tag. Auf dem Heimweg rufen meine Junx aus Neuenhagen an. Sie haben heute bei einem Freund geholfen, ein Dach abzudecken und den Dachstuhl rückzubauen. Unser Freund baut dort sein Sommerdomizil aus und nun ist endlich das Dach dran. Auch dort laufen die Projekte, der Alltag weiter. Nichts steht still. Alles ist in einem stetigen Fluss, wie Heraklit schon feststellte 🙂 Da ich nicht helfen konnte, haben sie ein Foto von mir ausgedruckt und an eine Schuppenwand geklemmt. Dabeisein ist quasi alles. Ich liebe diese durchgeknallte Truppe!

Im Auto setze ich das erste Mal eine Sonnenbrille auf. Die Sonne steht so tief, aber scheint noch so intensiv, dass es manchmal fast wie ein Blindflug ist, wenn man die nächste baumbeschattete Biegung erreicht. Es sind immer noch vier Grad draußen und die Luft ist erfüllt von frischen, zaghaften Gerüchen, die den nahenden Frühling ankündigen. Ich kann mich noch immer nicht an den weiten weißen Flächen sattsehen, die hier immer noch die Oberhand haben. Doch das ist nicht mehr lange so.

Zurück in Borgvik bin ich trotz des Besuchs eines Shoppingcenters erstaunlich relaxed. Lag es an der entspannenden Fahrt, am Wetter, an der Natur, an den stets freundlichen, hilfsbereiten und geduldigen Schweden oder einfach nur an der Tatsache, dass hier alles so normal und unhysterisch läuft? Wahrscheinlich ist es ein Potpourri aus allem.


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